Moin Till,
bist nicht allein mit diesem Problem. Vielleicht wärest du eher allein auf weiter Flur, wenn du es nicht hättest.
Hab das, was ich dir jetzt antworte, schon ein paar Mal verzapft (für alle, dies schon mitsingen können: weglesen!). Bei Leuten, die mir so richtig gegen den Strich gehen, mach ich das Badezimmer-Spielchen. Das Badezimmer ist der Ort, an dem ich manchmal und in früheren Zeiten regelmässig verzweifel(t)e. Ich stehe unausgeschlafen und vermatscht vor dem Spiegel, jedes Speckröllchen, jeder Pickel lacht mir entgegen, die Waage fällt vernichtende Urteile. Selbstzweifel und Selbstverachtung erreichen an diesem Ort ihre höchsten Einschaltquoten.
Wenn ich auf irgendwen einen Rochus habe, wenn alles "Nettfindenwollen" nicht greift, dann schlüpf ich zur Badezimmerzeit in ihn hinein. Ich fühle dann, wie er sich matschig und unausgeschlafen fühlt, wie er sich hässlich und unliebenswert findet, wie er sich für sich selber schämt. Ich merke, dass er dieselbe Unsicherheit, dasselbe Gefühl von Unglück in sich trägt wie ich. Und selbst wenn er der Bademodenmodeltyp ist, er wird sogar an seinem Körper nicht weniger auszusetzen haben als ich.
Kurz: Er ist ein genauso armes Schwein wie ich. Es geht ihm nicht die Spur anders als mir. Das, was uns da oberflächlich trennt, was uns aneinander missfällt, was uns so verschieden macht, ist nur Firlefanz. Er wird sich von mir genauso abgestossen fühlen wie ich mich von ihm - und gleichzeitig wünscht er sich, bewusst oder nicht, genauso wie ich, dass es ganz anders wäre. Beide wünschen wir uns, dass wir uns vor uns selbst nicht ganz so erschrecken, wie wir es tun. Beide wollen diese Welt nicht, von der wir glauben, wir seien ihr bedingungslos ausgeliefert.
Wenn all dies dämmert, dämmert auch so langsam das Wort "Bruder" in mir. Schade, dass ich immer erst so tief hinab muss, bis dem so ist ... .
Vielleicht hilfts, ich wünsch dir alles Liebe. Gruß, Hannes