Wie verhält sich das noch mal mit dem Verhalten und dem Kurs?
Erst einmal stelle ich mir die Frage, ob der Kurs definiert, was Verhalten ist.
Das Wort "Verhalten" oder "verhalten" kommt zum Beispiel im Zusammenhang mit der Goldenen Regel vor: "
Nach der Goldenen Regel sollst du anderen das tun, was du willst, dass sie dir tun."(T-1.III.6:2)
Das ist eine sehr allgemeine Umschreibung, aber ich kann trotzdem etwas damit anfangen, weil ich mit dieser Maßgabe groß geworden bin. Sie war ein Leitsatz, den ich einleuchtend fand, um mich im menschlichen, damals kindlichen, Miteinander zu orientieren. Ich wollte nicht verpetzt werden, also habe ich niemanden verpetzt. Zugegeben, das hat nicht immer funktioniert. Meine Reibungspunkte im menschlichen Miteinander könnte ich zusammenfassen als Abweichungen von der Goldenen Regel. Wenn ich mich ehrlich bemühe, niemanden zu verpetzen und das auch dann einhalte, wenn's schwierig ist, reagiere ich sauer auf eine Freundin, die mich verpetzt. Das ist ein deutlicher Verstoß gegen meinen Leitsatz, denn mir tut jemand etwas an, von dem ich nicht will, dass es mir jemand antut.
Gibt es zu diesen "Ausnahmen von der Regel" eine Aussage im Kurs? Ja, die gibt es. In der Lektion 72 heißt es: "[..]
lass uns überlegen, von weicher Art die Dinge sind, um derentwillen du zu Groll neigst. Stehen sie nicht immer mit etwas in Verbindung, was ein Körper tut? Ein Mensch sagt etwas, was dir nicht gefällt. Er tut etwas, was dir missfällt. Er 'verrät' seine feindlichen Gedanken durch sein Verhalten."(Ü-I.72.3)
Würde ich den letzten Satz aus dem Textzusammenhang nehmen, käme ich zu dem Schluss, dass ich vom Verhalten meines Mitmenschen auf seine Gedanken schließen kann.
Vielleicht überrascht es, aber auf diesen Zusammenhang zwischen den Gedanken und dem Verhalten verweist der Kurs tatsächlich. "
Was du tust, kommt von dem, was du denkst." (T-2.VI.2)
Als ich mit dem Kurs begonnen habe, begegneten mir Sätze, die ich in einem Satz zusammenfassen kann: "Im Kurs geht es nicht um das Verhalten." Die Diskussionen um diesen Punkt habe ich auch noch sehr deutlich im Kopf, denn welcher Kursanfänger fragt sich nicht früher oder später, wie er denn dieses oder jenes Verhalten eines Bruders vergeben soll? Von welchem Denken zeugt es, wenn jemand einen anderen beschimpft, verletzt, beleidigt, betrügt?
Gute Frage: Von welchem Denken zeugt es? Laut Kurs zeugt es von "wahnsinnigem Denken":
"
Du würdest ein wahnsinniges Verhalten deinerseits nicht dadurch entschuldigen, dass du sagst, du könnest nichts dafür. Weshalb solltest du wahnsinniges Denken entschuldigen? Hier liegt eine Verwechslung vor, die du dir besser genau ansehen solltest. Möglicherweise glaubst du, dass du verantwortlich bist für das, was du tust, aber nicht für das, was du denkst. Die Wahrheit ist, dass du verantwortlich bist für das, was du denkst, weil du nur auf dieser Ebene eine Wahl treffen kannst. Was du tust, kommt von dem, was du denkst. Du kannst dich nicht dadurch von der Wahrheit trennen, dass du dem Verhalten Autonomie 'verleihst'." (T-2.VI.2)
Wunderbar. Der Kurs und ich sind einer Meinung! Jeder ist verantwortlich für das, was er tut! Aber ist das wirklich so gemeint? Nehmen wir einmal an, ich würde jemanden belügen. Ja, das wäre im Prinzip wohl "wahnsinniges Verhalten", weil ich Lügen
im Grunde verabscheue. Und meine Lüge zieht ja einen ganzen Rattenschwanz unangenehmer Folgen nach sich, weil ich mich anschließend gehörig fertigmache für mein Fehlverhalten. Es kann passieren, dass mir mein Fehlverhalten so unangenehm ist, dass ich dringend einen Ausweg brauche. Ich will meine Schuldgefühle loswerden und entschuldige mich selbst damit, dass ich ja nicht anders konnte, weil …
Meine Antwort auf die Frage, warum ich wahnsinniges Verhalten entschuldigen würde, müsste demnach lauten, dass ich es so unangenehm finde, die Verantwortung für mein "wahnsinniges Verhalten" bei mir zu haben, dass ich die Verantwortung möglichst loswerden möchte.
Dass mein Verhalten auf das zugrundeliegende Denken verweist, macht nun die Sache nicht besser, sondern eher schlimmer! Wie peinlich, wenn jeder erkennt, was ich eigentlich denke!
Bietet mir der Kurs eine Lösung an? Ja, natürlich.
[…]
Du musst anderen Geistes werden, nicht dein Verhalten ändern, und das ist eine Frage der Bereitwilligkeit. Du brauchst keine Führung außer auf der Ebene des Geistes. Die Berichtigung gehört nur auf die Ebene, auf der Veränderung möglich ist. Veränderung bedeutet nichts auf der Ebene der Symptome, auf der sie nicht wirksam sein kann. (T-2.VI.2)
Mit dieser Lösung bin ich gleichzeitig bei einem Schlüsselproblem angelangt, mit dem Kursschüler sich häufig herumplagen. Wie kann ich anderen Geistes werden, wenn ich doch weiterhin von "wahnsinnigem Verhalten" umgeben bin (auch bei mir selber)? Wie geht das, wenn die Versuchung doch weiterhin so groß ist, die Verantwortung abzuschieben?
Wie werde ich mit dem "weil" fertig? Wie durchbreche ich die Ursachenkette von "Ich verhalte mich wahnsinnig, weil Du Dich wahnsinnig verhältst. "? Zumal mit dieser Ermahnung im Nacken:
"
Ich habe dich ermahnt, dich so zu verhalten, wie ich mich verhalten habe, aber dazu müssen wir auf den gleichen GEIST reagieren. Dieser GEIST ist der HEILIGE GEIST, DESSEN WILLE immer für GOTT ist. ER lehrt dich, wie du mich als Vorbild für dein Denken beibehalten und dich als Folge davon so verhalten kannst wie ich." (T-5.II.12)
Die Ermahnung erhält die Lösung: auf den Heiligen Geist reagieren!
Das heißt, ich reagiere nicht auf den Heiligen Geist, wenn ich ein "weil" brauche, um mein Verhalten oder das meines Bruders zu ent-
schuld-igen.
Die einzige Möglichkeit, mit dem Bedürfnis nach Entschuldigung umzugehen, ist die Feststellung, dass es auf der Ebene des Heiligen Geistes keine Schuld gibt.
Die Ebene des Heiligen Geistes ist die Ebene der Wahrheit.
Die Wahrheit ist also, dass es keine Schuld gibt.
Dieses Urteil leiht ER mir auf meine Bereitwilligkeit hin.
Schließe ich mich SEINEM Urteil an, dann brauche ich keine Entschuldigungen mehr.
Ich übernehme die Verantwortung für mein Denken, wie peinlich es mir auch immer sein mag. Das ist jedenfalls der Ausgangspunkt dafür, die wahre Pein zu erkennen.
Die Ebene des Verhaltens ist die Ebene des Übens. Das, was ich wahrnehme, zeigt mir, was ich denke.
Solange ich diesen Zusammenhang übersehen möchte, weil mir das, was ich sehe, Angst macht, solange bleibe ich ohnmächtig.
Mit anderen Worten: Das Ego ist buchstäblich verantwortungslos. Die einzige Antwort, die das Ego auf jeden noch so kleinen Missklang kennt, lautet: Ich bin nicht verantwortlich!
Dieses Prinzip umfassend wirken zu sehen, kann ganz schön erschüttern.
Vielleicht sind wir deshalb beeindruckt von denen, die wirklich die volle Verantwortung für ihr Tun übernehmen oder beanspruchen. Im Guten wie im Schlechten. Wir spüren, dass sie sich selbst dazu ermächtig haben. Und weil wir "unser" Denken selber so gut kennen, befürchten wir das Schlimmste, wenn jeder sich selbst ermächtigt. Deshalb bleiben wir lieber klein und ohnmächtig, um das Schlimmste zu verhindern.
Das aber ist die wahre Pein: Ein KIND GOTTES ist nicht klein und ohnmächtig und leidet, wenn es sich klein und ohnmächtig macht.
Zurück zur Ausgangsfrage lautet die Antwort: Ich habe auf der Ebene des Verhaltens überhaupt keine Wahl! Nur auf der Ebene des Geistes habe ich die Wahl, welchem Denksystem ich mich anschieße.
Die Frage sollte also besser lauten: Will ich die Verantwortung für mein Denken?
Erika